Potenzialanalysen müssen nicht immer aufwendig und kostenintensiv sein. Sie werden bei personalpolitischen Entscheidungen eingesetzt. Sie sollen schwierige Entscheidungen erleichtern und diese möglichst objektiv begründen. Teilweise werden auch Erkenntnisse aus der psychologischen Eignungsdiagnostik herangezogen, um mit Hilfe von Persönlichkeitstests oder künstlich geschaffenen Situationen (Assessment Center) das Mitarbeiterpotenzial einzuschätzen.
Wie man auch zu diesen Verfahren stehen mag, eine Entscheidung muss letztlich immer noch getroffen werden. Die Potenzialanalyse durch "Einfache Fragen stellen" fokussiert auf das Wesentliche im Entscheidungsprozess. Zudem wird auf das im Unternehmen vorhandene Wissen zurückgegriffen. Der vergleichsweise geringe Aufwand macht dieses Instrument auch für kleine und mittlere Unternehmen zu einer attraktiven Möglichkeit.
Hat jemand das Potenzial, andere Menschen zu führen? Eine zentrale Frage, die in der Personalentwicklung eines jeden Unternehmens früher oder später auftaucht. Eine Vielzahl von Methoden und Instrumenten wurde entwickelt, darunter Assessment Center (AC), Einzel-AC, Managementaudit, Entwicklungsbeurteilung durch den Vorgesetzten, diagnostische Testverfahren etc.
Wozu brauchen Unternehmen Potenzialanalysen?
Die Anlässe zu dieser Frage sind vielfältig:
- Das junge Unternehmen expandiert, erste Hierarchie-Ebenen werden eingezogen, aber wer von den aufstrebenden Nachwuchskräften kommt für eine Leitungsfunktion in Frage?
- Ein Geschäftsbereich will sich neu strukturieren, eine gute Gelegenheit, mit frischen Kräften in entscheidenden Positionen den Neubeginn zu wagen. Aber wer kann verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen?
- Ein Manager hat das Unternehmen verlassen, eine Chance für leistungsstarke Mitarbeiter, aufzusteigen. Wer von ihnen hat das Zeug für eine Führungsaufgabe?
- Ein neuer Geschäftsführer möchte sich ein Bild über seine Mannschaft machen, hat aber keine Chance, alle ausführlich kennen zu lernen. Wer hat welche Stärken und Schwächen?
- Die Firma läuft, aber man möchte vorausschauend in die Mitarbeiter investieren, Nachwuchskräfte identifizieren, langfristig fördern und Personalentwicklungsmaßnahmen starten. Wer benötigt welche Maßnahme?
- Die Probezeit nähert sich dem Ende, die Unternehmensleitung möchte wissen, wie sich der Neue gemacht hat und ob er wirklich die richtige Wahl war.
Die gängigste Methode ist sicher, den jeweiligen Vorgesetzten zu konsultieren: Sie kennen Ihre Mitarbeiter am besten. Wie sieht es aus: Wer kann Menschen führen? Wo haben die aussichtsreichen Kandidaten ihre besonderen Stärken? Und was fehlt ihnen noch zum "Ritterschlag"?
Potenzialeinschätzung durch Vorgesetzte
Unternehmen, die hier etwas systematischer vorgehen, stellen den Führungskräften ein Instrument, etwa einen Beurteilungsbogen, zur Verfügung. Mit Hilfe mehrerer Kriterien und Skalen soll nun jeder Vorgesetzte seine Mitarbeiter bezüglich ihres Potenzials einschätzen. Die Führungskräfte machen sich also an die Arbeit, und sie geben sich in der Regel auch viel Mühe.
Am Ende hält das Management eine Liste von fähigen Mitarbeitern für höhere Managementaufgaben in der Hand. Doch dann folgt die Ernüchterung. Wer immer als "High Potential" beurteilt wird, erhält Bestnoten, eine Differenzierung zu anderen ist kaum möglich. Eigentlich kein Wunder, denn all jene sind ja in den Augen ihrer Chefs fähige Mitarbeiter mit guten Aussichten aufzusteigen. Und eigentlich auch erfreulich, denn was will das Unternehmen mehr?
Es möchte unterscheiden. Es möchte am liebsten ein klares und eindeutiges Profil in den Händen halten, das es mit dem Anforderungsprofil einer konkreten freien Managementposition abgleichen kann, um so in der schwierigen Aufgabe unterstützt zu werden, den richtigen Menschen in die richtige Position zu bringen.
Da man weiß, wie subjektiv und von persönlichen Neigungen und Interessen eine Einzelbeurteilung geprägt ist, greift man also zu anderen Instrumenten, und auch hier sind die Personalverantwortlichen erfinderisch. Das Angebot an angeblich zuverlässigen, wissenschaftlichen Kriterien genügenden Methoden wächst, und alle versprechen hoch valide Ergebnisse.
Das Assessment Center
Zum Beispiel das Assessment Center. Da werden dann sechs bis zwölf Kandidaten zwei Tage lang auf eine Bühne gestellt, wo sie sich dem Management präsentieren. Am Ende wird ihre Leistung beurteilt und die Karriere geplant ? oder auch nicht. Das Problem: Der Aufwand ist hoch, der Verhaltensausschnitt gering.
Vier bis zehn Übungen, meist Rollenspiele, Präsentationen und Gruppendiskussionen, in denen jeder der Kandidaten nur wenige Minuten tatsächlich Verhalten zeigt. Diese Ausschnitte sollen das "wahre Managerdasein" repräsentieren? Es bleiben Zweifel: Hat er hier wirklich gezeigt, was er kann? Können wir von diesen "Darbietungen" tatsächlich auf zukünftige Leistungen schließen?
Das Managementaudit
Es gibt Alternativen, die sehr schnell Ergebnisse bringen. Zum Beispiel das Managementaudit. Einige Varianten dieses Check-ups gestandener Manager oder hoffnungsvoller Nachwuchskräfte sind im Umlauf. In der Regel basieren sie auf teilstrukturierten Interviews, voraus geht die Festlegung von Kriterien, ähnlich wie beim Assessment Center.
Durchgeführt werden diese Audits in der Regel von externen Personalberatern, die über eine große Erfahrung aus dem Bereich des Headhuntings verfügen und nun mit ihrem Produkt ein neues Marktsegment erschlossen haben. Manchmal sprechen zwei Interviewer gleichzeitig mit den Kandidaten, manchmal zwei nacheinander. Eine andere Variante ist ein Duo aus externem und internem Personalfachmann. Im Anschluss an das Interview wird ein Gutachten erstellt und der Kandidat in ein Portfolio einsortiert, das je nach Anzahl der Felder von "Problemfällen" bis "Stars" reicht.
Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Externe Berater sind neutral, nicht voreingenommen und verfügen in der Regel über eine große Erfahrung in der Beurteilung von Menschen. Das Problem: Die Sache ist kostspielig, und was der externe Berater leider nicht kann: Er sieht den Kandidaten nicht in seinem "natürlichen" Umfeld, sondern verlässt sich ganz auf die Schilderung des Kandidaten selbst. Die Aussagekraft des Gutachtens ist daher stets mit einem Fragezeichen versehen.
Was aber gravierender ist: Die Akzeptanz bei den Betroffenen ist gering. "Da arbeite ich nun schon seit etlichen Jahren in diesem Unternehmen, nun plötzlich soll ein Interview von zwei Stunden den Ausschlag über meinen weiteren Einsatz und damit über meine Karriere geben?" (ein Argument, das übrigens auch bei einem Assessment Center nicht zu vernachlässigen ist.)
Und schließlich ein Kritikpunkt, der oft übersehen wird: "Ist unser Management nicht in der Lage, meine Fähigkeiten zu beurteilen? Wenn es das nach all den Jahren nicht kann ? was ist das dann für ein Management?"
Das Wissen im Unternehmen nutzen
Wenn man von der Annahme ausgeht, dass im Unternehmen selbst genug über die in Frage kommenden Kandidaten bekannt ist ? warum nutzt man dann nicht das Wissen derjenigen, die den Kandidaten täglich erleben, die ihn in all seinen Facetten, Launen, Stimmungen, Hochs- und Tiefs kennen, und das in vielen unterschiedlichen Anforderungssituationen? Und zwar so, dass man auch verständliche Aussagen erhält!
Hierzu sind die gängigen Beurteilungsbögen leider nicht tauglich, auch wenn sie weit verbreitet sind. Bekanntlich kann jeder Vorgesetzte ein sehr differenziertes Urteil über seine Mitarbeiter abgeben, wenn man ihn richtig fragt. Da muss man nur einmal zuhören, wenn er sich mit Kollegen oder Freunden über die Mitarbeiter austauscht.
Einfache Fragen stellen
Auf dieser Fähigkeit, sich Urteile auf Grund von Beobachtungen zu bilden, baut das im Folgenden beschriebene Verfahren auf, das wir Potenzialanalyse durch herausfordernde Situationen nennen. Ein Beispiel:
"Angenommen, ein Projektteam ist so untereinander zerstritten, dass das Projekt in Gefahr ist. Würden Sie dem Kandidaten die Leitung eines solchen Projektes übertragen?"
Sechs bis sieben derartiger Fragen liegen dem Beurteiler vor. Er hat nur die Wahl zwischen ja und nein. ("Könnten wir dort nicht eine Skala von 1 bis 10 verwenden?" war die ernst gemeinte Frage einer Führungskraft. Antwort seines Kollegen: "Wozu? In der Praxis ist das genau die Entscheidung, die wir zu fällen haben. Keiner kann eine Aufgabe irgendwo mit der Gewichtung 6 oder 7 verteilen.")
Allerdings muss die Entscheidung begründet werden. Der Kniff dabei: Ganz gleich, wie er sich entscheidet ? er wird aufgefordert, sowohl die Argumente für die Übertragung der geschilderten Aufgabe als auch diejenigen gegen diese Übertragung zu formulieren. So schwer ihm diese erzwungene Entscheidung auch fällt: Die Möglichkeit der Begründung wiederum erleichtert die Aufgabe ungemein. Wenn zum Beispiel die Antwort auf die Frage:
"Angenommen, ein neues Forschungsprojekt muss vor der Geschäftsleitung präsentiert werden. Von der Präsentation hängt die Bewilligung der notwendigen Mittel ab. Nun ist der Forschungsleiter kurzfristig erkrankt. Würden Sie dem Kandidaten diese Präsentation übertragen?"
"nein" lauten würde, können die Pros und Contras ein differenziertes Bild für weitere personalwirtschaftliche Planungen liefern. Beispielsweise wird der Kandidat unter Pro mit selbstbewusst, schlagfertig, gewinnend, sprachgewandt, keine Angst vor großen Tieren etc. beschrieben. Auf der Contra-Seite steht lediglich: "Fehlende Erfahrung".
Diese Art von Beurteilung liefert differenzierte Beschreibungen, die recht aufschlussreiche Erkenntnisse über das Potenzial von Mitarbeitern vermitteln. In dem geschilderten Fall ist die Entwicklungsrichtung klar und sicher völlig anders, als wenn die Begründung für ein "Nein" lautete: "Unsicher, unstrukturierte Vortragsweise, langatmig, wenig begeisternd" und auf der "Pro-Seite": "große Erfahrung" stünde.
Mehrere Beurteilungen einholen
Was jedoch bleibt, ist die Tatsache, dass diese Einschätzung von einer einzelnen Person stammt, nämlich in der Regel von dem Vorgesetzten. Man kann jedoch zusätzlich eine Beurteilung dessen, was man einem Kandidaten anvertrauen würde, von mehreren Personen durchführen lassen.
In mehreren Projekten, in denen inzwischen weit über 500 Personen mit dieser Methodik beurteilt wurden, wurde die 360°-Beurteilung gewählt. Im Vordergrund stand die Einschätzung dessen, was man einer Person zutraut.
Wohlgemerkt, hier geht es um "Beurteilung" im Gegensatz zum "Feedback". Feedback steht für freiwillig, gewünscht und in der Absicht formuliert, Rückmeldung über konkretes Verhalten zu geben, um dem Feedback-Empfänger die Möglichkeit zu geben, seine Selbsteinschätzung mit der des Feedback-Gebers zu vergleichen und gegebenenfalls sein Verhalten zu überdenken und zu korrigieren.
Bei einer Beurteilung gehen wir davon aus, dass diese Konsequenzen durch die beurteilende Instanz beziehungsweise durch die Instanz, die die Beurteilung in Auftrag gegeben hat, nach sich zieht. Dass Beurteilungen natürlich wie Feedback Aussagen über Verhalten enthalten und damit ebenso die Möglichkeit bieten, dieses zu reflektieren, ist offensichtlich und unseres Erachtens ein Grund dafür, dass Feedback und Beurteilung häufig nicht sauber getrennt werden.
Die vom Autor durchgeführte Potenzialbeurteilung in der geschilderten Form hatte stets ähnliche Anlässe: Es ging um die Umstrukturierung in einem Geschäftsbereich oder einer größeren Abteilung. Das Management dieser Geschäftseinheit war in der Regel neu und wollte die Entscheidung bei der Besetzung von Führungspositionen auf der Basis "objektiver" Einschätzungen treffen und sich nicht allein auf die Beurteilung des derzeitigen Vorgesetzten verlassen ? zumal dabei das Problem auftaucht, dass die Einschätzungen der Kandidaten durch verschiedene Vorgesetzte nicht gleich waren.
Sorgfältige Auswahl der Beurteiler
Eine nicht ganz einfache Aufgabe ist die Auswahl der Beurteiler. Am ehesten erscheint folgender Weg geeignet: Das Auftrag gebende Management wählt je Kandidat sieben Personen aus, die enger mit ihm zusammen arbeiten: Kollegen, Mitarbeiter, Vorgesetzte, interne Kunden?
Diese Liste wird mit dem Kandidaten abgesprochen, so dass für ihn Transparenz darüber besteht, wer ihn einschätzt. Die Akzeptanz für das Ergebnis ist umso höher, je sicherer die Kandidaten sind, dass die Auswahl der Beurteiler fair und sachlich getroffen wurde. Im Einzelfall können auch zusätzliche Beurteiler auf Wunsch des Kandidaten aufgenommen werden.
Ablauf des Verfahrens
Zunächst werden kritische Situationen beschrieben, in die Manager in dem auftraggebenden Unternehmen typischerweise geraten können. Diese Situationen so zu beschreiben, dass sie den Beurteilern die Antwort "nicht in den Mund legen". Dies bedarf einer gewissen Erfahrung. Zudem ist es wichtig, dass sich die Situationen in ihren Anforderungen nicht zu stark überlappen und Wiederholungen bei den Antworten produzieren.
Nach der Erstellung spezifischer Situationen (sechs Situationsbeschreibungen genügen in der Regel) und Information der Kandidaten und Beurteiler erhalten die Beurteiler den Fragebogen - am besten als Link zu einem Online-Tool, das die Auswertung erheblich erleichtert. Sie entscheiden für jede Frage, ob sie die beschriebene Aufgabe dem Kandidaten anvertrauen würden und führen zu der getroffenen Entscheidung jeweils die Pros und Cons auf.
Nach Abschluss aller Bewertungen erhält ein (externer) Auswerter die Ergebnisse und fasst sie je Frage zusammen. Möglichst auf eine Seite komprimiert erhält der Auftraggeber die Beschreibungen der Stärken und Schwächen eines Kandidaten bezogen auf die eingangs erstellten Anforderungssituationen.
Eine Kopie des Ergebnisses überreicht der Auftraggeber dem Kandidaten und bespricht mit ihm die sich hieraus ergebenden Konsequenzen beziehungsweise Entscheidungen: Welche Position kommt als nächstes in Frage? Welche Entwicklungsmaßnahmen werden ergriffen? Welche Aufgaben soll der Kandidat in der näheren Zukunft übernehmen etc.
Erfahrungen
Die bisherigen Erfahrungen mit dem Instrument haben gezeigt, dass die Akzeptanz auf Seiten der Kandidaten hoch ist, obwohl sie in der Ergebniszusammenfassung häufig extreme Widersprüche vorfinden. Diese beruhen darauf, dass Menschen in Führungspositionen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden, je nachdem, aus welcher Perspektive sie betrachtet wurden. Ein Manager kann von seinen Projektkollegen als kooperativ und hilfsbereit wahrgenommen, von einzelnen Mitarbeitern jedoch als autoritär und distanziert beschrieben werden.
Die Auftraggeber zeigten sich entweder bestätigt in ihrer bisherigen Einschätzung und damit sicherer bezüglich einer anstehenden Karriereentscheidung, oder sie fanden überraschende Aspekte in den Ergebnissen, die sie im Gespräch mit den Kandidaten hinterfragten und in ihre Entscheidung einbezogen.
Ein weiterer wesentlicher Vorteil des Verfahrens: Eine Schulung der Anwender ist nicht erforderlich, es ist auf Anhieb verständlich und einfach zu bedienen. Der Autor empfiehlt lediglich, die Erstellung der Fragen sowie die Auswertung durch geschulte Experten vornehmen zu lassen.
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Autor Johannes Thönneßen jthoennessen(at)mwonline.de
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