Die Frage nach dem höheren Sinn hat im beruflichen Kontext Konjunktur. Das ist kein Corona-Phänomen, sondern nimmt mit der Mentalität jüngerer Generationen und der heutigen Lebensbetrachtung stetig zu. Arbeitgeber sind dazu aufgefordert, Auskunft zu geben, was sie antreibt, wozu sie da sind. Das liegt einerseits daran, dass wir, ein großer Teil der Menschen in entwickelten Ländern, im Prinzip schon alles haben. Es geht also nicht mehr bloß um Erwerb. Die tragende Motivation der Zukunft zielt auf Selbstverwirklichung auf der persönlichen Ebene und auf Nachhaltigkeit auf der gesellschaftlichen und gesamtökonomischen Ebene ab. Unser Interesse liegt auf dem gesellschaftlichen Beitrag, den wir leisten möchten. Und dieses können wir insbesondere mit unserer Tätigkeit verbinden und verfolgen.
Ende Januar 2021 verzeichnen wir eine Quote von fast 50 Prozent aller Arbeitnehmer im Home Office beziehungsweise in dezentraler Arbeitsorganisation (Remote Work). Plötzlich sind beide Seiten, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, auf Vertrauen angewiesen, um der Führung auf Distanz zum Erfolg zu verhelfen. Kontrolle spielt eine nachgeordnete Rolle. Besonders jetzt kann durch wirksame Remote-Führung Vertrauen gestärkt werden.
Während manche Arbeitnehmer sich freuen, flexibel, ausbalanciert zu sein und nie wieder jeden Tag ins Büro zu müssen, löst die Erfahrung, mehr Zeit für sich zu haben, bei anderen die Sorge aus, fachlich und sozial abgehängt zu werden. Zweifellos wird die Grenze zwischen Privatleben und Arbeit in der aktuellen Remote Work-Situation und der Führung auf Distanz nochmals unschärfer. Gerade in Deutschland verlief die Trennlinie traditionell sehr scharf. Das ändert sich gerade. Die meisten Menschen können und möchten sie fließender gestalten.
Mit dieser neuen Haltung zur Arbeit stellt sich gerade für Führungskräfte die Frage, wie sie ihren Mitarbeitenden heute im Home-Office Halt, Sicherheit und Planbarkeit gewährleisten können; oft verbunden mit der irrtümlichen Annahme, dass die Schutzbedürfnisse der Angestellten sich in sehr großen Unternehmen am besten erfüllten.
Die Arbeitsbeziehungen selbst verändern sich in der Pandemie auf ganz interessante Weise. Ich stelle fest, dass Führungskräfte, die bisher große Schwierigkeiten damit hatten, auf Vertrauensbasis mit ihren Leuten zusammenzuarbeiten und die explizit gegen freies Arbeiten im Homeoffice waren, sich diesen Möglichkeiten nun öffnen mussten und oft überrascht feststellten, dass sie sich auch beim Führen auf Distanz oder der Remote-Führung auf ihre Mitarbeitenden verlassen können. In vielen Unternehmen genügt es, den Mitarbeitenden die technischen Möglichkeiten anzubieten; und dass diese dann wissen, was zu tun ist und sich aktiv daran beteiligen, regelmäßig in Kontakt zu bleiben. So wird das Vertrauen gestärkt und so manche Unternehmenskultur revolutioniert.
Ich nehme wahr, dass sehr viele Mitarbeitende das zu schätzen wissen und es mit einer höheren Solidarität und Loyalität zu ihrem Arbeitgeber honorieren. Sie merken, dass ihnen vertraut wird, und diese Erfahrung bringt eine gewisse freiwillige Verpflichtung mit sich. Man kann sagen: Gekonnte Remote Führung steigert die Bindung und die Loyalität. Nie war die Zeit für Innovationen und Neugestaltung von Arbeitsbedingungen so günstig wie jetzt. Die Offenheit dafür war - auf beiden Seiten des Tisches - nie größer.
Der Wunsch nach Nähe in der Distanz
Viele Menschen sehen sich im Home Office auf sich gestellt. Das macht viele nachdenklich und verstärkt die Selbstreflexion. Die aktuelle Krisensituation verändert unser Mindset und wirkt in vielen Lebensbereichen bewusstseinsfördernd. Ich glaube, dass dieses neue Bewusstsein bleibt und sich nachhaltig auswirkt. Natürlich werden bestimmte veränderte Haltungen und daraus resultierend verändertes Verhalten wieder etwas verblassen, doch sie werden nicht wieder verschwinden. Damit werden auch zahlreiche neue Arbeitsweisen bestehen bleiben. Die Begründung dafür liegt tiefer, Corona ist nur ein Beschleuniger dieser Veränderungen. Wer jetzt eine hohe Loyalität innerhalb von Arbeitsteams und Kundengruppen erreicht, wird sicherlich einen Kern davon dauerhaft bewahren.
Wie gut, dass online vieles möglich ist! Vielen Menschen hat die pure Notwendigkeit zum digitalen Austausch die Scheu vor neuen Technologien genommen. Vermutlich wird zukünftig niemand noch für eine zweistündige Sitzung quer durch Deutschland fahren oder fliegen. Die Flexibilität als soziale Kompetenz hat sowohl beim Einzelnen als auch bei Unternehmen zugenommen und bleibt ein Erfolgsfaktor. Und obwohl das Leben weniger planbar ist und bleibt, ist das Gute an der gegenwärtigen Situation, dass diejenigen, die sich auf Veränderung und eine gewisse Experimentierbereitschaft einlassen, zugleich merken: Wenn ich flexibel bleibe, komme ich durch. Das schafft bei Menschen wieder Zuversicht und Selbstbewusstsein.
Für alle Menschen und ganz besonders diejenigen in Führung und Verantwortung, lassen sich einige Strategien ableiten, um auf die Herausforderungen unserer Zeit im neuen Remote Working eine nutzbringende Lösung umzusetzen.
Herausforderung 1
Ich erlebe in nahezu jedem Unternehmen eine große Anzahl von Experten. Also Menschen, die es gewohnt sind zu sagen, wo es langgeht. Sie wissen andere von ihrer Meinung zu überzeugen, weil sie über Wissen und Erfahrung verfügen. Sie formulieren ihre Schlussfolgerungen als Fakten und fragen eher seltener nach, um die kontroversen Meinungen der Anderen zu verstehen, denn das kostet Zeit. Das mag zwar nach einer gängigen Führungslegitimation klingen und nicht so sehr nach einer Herausforderung? Doch wenn es darum geht, mit Veränderungen umzugehen und sich einer komplexer werdenden Welt entwicklungsgerecht anzupassen, dann sind es oft gerade diese sich in der Vergangenheit bewährten Expertenmeinungen, die ihnen heute die Sicht versperren.
Mehr gelebte Loyalität in der Führung und Zusammenarbeit erlaubt es, ein "Experte für Führung trotz Ungewissheit" zu werden. Für die Führungskraft im Remote Working bedeutet dies, ein loyales Mindset zu verankern, um zu ermöglichen, Meinungsverschiedenheiten mit dem Blick auf gemeinsame Interessen auszutragen. So können Meinungen als Meinungen geäußert werden und Sichtweisen brauchen nicht als Fakt verkauft zu werden. Mit ehrlichen Meinungen wird die jeweilige Argumentation und Denkweise offenbart. Führungskräfte zeigen sich aufrichtig interessiert, fragen nach und hören zu. Sie sind offen für Gegenargumente, loten deren Auswirkungen aus und respektieren die Entscheidungen anderer. So wird mit loyaler Remote Führung zu echter Entwicklung beigetragen, Entscheidungen werden auf der Basis kollektiver Intelligenz getroffen und fördern gleichzeitig konstruktiven Dissens und Innovation.
Herausforderung 2
Je größer das Unternehmen, desto stärker nehme ich diese Ausprägungen wahr: Flurfunk, politisches Taktieren und Absicherung nach allen Seiten, wenn etwas schiefgeht oder das Risiko zu groß ist. Leider oft als Reflex erlebt, halte ich diese Tendenz für schwierig, weil sie externe Faktoren oder andere Menschen für ein Ergebnis verantwortlich macht. Doch das ist weder loyal noch hilft es weiter. Erst wenn sich die einzelnen Betroffenen als Teil der Dynamik begreifen, können sie aktiv zu einer Lösung beitragen.
Mit einer loyalen Einstellung kann dieses typische Selbstschutz- und Abwehrmuster gerade im Remote Working durchbrochen werden. Mit dieser neuen Sicht wird sich unmittelbar auf die Wahlfreiheit, die Eigenverantwortung und den Einflussbereich des Einzelnen fokussiert und so Hemmschwellen durchbrochen, die gerade in der dezentralen Zusammenarbeit entstehen.
Herausforderung 3
"Man" hat sich angewöhnt, nicht zu sagen, was man wirklich denkt. Das Ergebnis ist toxische Kommunikation. Nehmen wir das Beispiel von Herrn Müller. Er denkt auf einen Vorschlag seiner Teamkollegin möglicherweise: "So eine blöde Idee wird nie funktionieren" sagt stattdessen aber: "Hm, interessant." Diese "kosmetische Wahrheit" wird in meiner Beobachtung hier und da angewendet, wenn jemand hin und hergerissen ist: Sollte man ehrlich und respektvoll oder doch lieber rein sachlich-faktisch sein, weil das von Professionalität zeugt? In solch einem Fall sollte Herr Müller sich nicht wundern, wenn seine Botschaft emotional nicht bei seiner Gegenüber ankommt und diese sich ihm gegenüber wenig verpflichtet fühlt.
Herrn Müllers Gedanken offenbaren sein Dilemma: Wenn er genau sagt, was er denkt, riskiert er einerseits einen Konflikt, schadet vielleicht der Beziehung oder fühlt sich schlecht. Andererseits, wenn er nicht sagt, was er denkt, wird das tatsächliche Problem nicht formuliert, er untergräbt die Beziehung und "vergiftet" sich selbst, weil er es für sich behält und diese Gedanken weiterhin in ihm arbeiten. Sollte er wirklich glauben, dass seine wahren Gedanken von anderen nicht bemerkt werden - obwohl er selbst überzeugt ist, diese sehr wohl bei anderen durchschauen zu können...?
Mit einer loyalen Haltung ist es möglich, die eigenen Abwehrmechanismen emotional intelligent zu steuern und die eigenen Gedanken effektiv zu "entgiften". Wie? Indem man sich Klarheit darüber verschafft, dass ein interner, toxischer Dialog reflexhaft "passiert" und dass ein Konflikt im Außen wahrscheinlich wird, wenn ehrlich gesagt wird, was man wirklich denkt. Wer eine "kosmetische Wahrheit" formuliert, die weder authentisch noch effektiv ist, lässt zusätzlich einen inneren Konflikt entstehen, der weiter gärt. Darüber hinaus ist ein solcher innerer Konflikt nach Außen sichtbar und erzeugt eine Wirkung. Im Wissen darum können diese Haltung und Verhalten ein Stück weit vorweggenommen und gesteuert werden. Wer auf dieser Grundlage sagt, was er wirklich denkt und will, ist dabei authentisch, effektiv und respektvoll. Und das wirkt sich gerade in der Zusammenarbeit via Videokonferenzen positiv aus, weil die optisch beschnittenen oder oft auch schlecht beleuchteten Signale der Körpersprache, die zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen führen könnten, ein Stück weit durch Authentizität und Vertrauensaufbau behoben werden.
Herausforderung 4
Wenn wir glauben, den Erfolg einer Sache garantieren zu müssen oder gar zu können, entsteht polares Entweder-oder-Denken. Herr Müller sollte sich nichts vormachen: Der Erfolg seiner Projekte liegt nur zu einem Teil in seinem Einflussbereich. Denn Krisen, fehlerhafte Technik, lückenhafte Kommunikation und viele weitere Faktoren liegen oft jenseits seiner Macht und Kontrolle. Das weiß er zwar, doch möglicherweise befindet er sich in einer Umgebung, in der von ihm als Experte und Führungskraft vermeintlich erwartet wird, dass er weiß, wo es langgeht. Hier lege ich Herrn Müller ans Herz zu überprüfen, inwiefern seine Umgebung tatsächlich diesen Anspruch an ihn und seine Führungsrolle erhebt. Ist seine Vermutung und vielleicht auch unbewusste Unterstellung wirklich wahr? Oder handelt es sich nur um eine alte Gewohnheit, die jetzt eine Erneuerung verdient?
Die eigenen Wahrnehmungs- und Denkmuster zu kennen, ermöglicht jedem Menschen, wirklich das zu tun, was von ihm gefragt ist. Und im zweiten Schritt Verantwortung für genau diesen eigenen Einflussbereich zu übernehmen. In der Arbeitsumgebung wird zunehmend erwartet, dass Führungskräfte authentisch sind, ihre eigenen Grenzen (an-)erkennen und bestimmte Führungsaufgaben loslassen. Es wird oft sogar darauf beharrt, dass eine Führungsperson konsequent verkörpert, woran sie glaubt - ganz besonders in Druck- und Krisensituationen. Es wird beobachtet, wie auf Misserfolge, Fehler oder Scheitern reagiert und damit umgegangen wird. Führungsmenschen, die sich jetzt auf den "Erfolg jenseits von Erfolg" fokussieren, führt dies zu kraftvoller Integrität, zu loyaler Führung "von Innen" und damit wird ihre Selbstwirksamkeit auf ein Optimum erhöht. Mit anderen Worten handelt es sich um das Bewusstsein, worum es Führungskräften im Kern ihres gesamten Tuns wirklich gehen sollte. Mit dieser Haltung erschließen sie sich eine der wichtigsten inneren Ressourcen: Resilienz. Wer aus dieser stabilen Verfassung heraus - gerade auch als klares Statement für Orientierung suchende Mitarbeitende im Remote Working - mutige Entscheidungen trifft, wirkt authentisch, souverän und loyal auf sein Team.
Herausforderung 5
Adaptive Herausforderungen sind daran erkennbar, dass es keinen klaren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung gibt; die Auswirkung wird erst im Nachhinein erkennbar (Beispiel: Corona). Und selbst das nicht immer. Das macht sie nur schwer zu lösen. Bei vielen heutigen Herausforderungen ist nicht planbar, was das Ergebnis sein wird. Das heißt, Führende wie Mitarbeitende müssen sich notgedrungen auf Unsicherheiten und eine gewisse Unvorhersagbarkeit einlassen, um handlungsfähig zu bleiben. Damit erfordern adaptive Herausforderungen tiefgreifende Reflexion und Entwicklung in den Bereichen Werte, Überzeugungen, Rollen, Beziehungen, Kommunikation und Zusammenarbeit. Der Entwicklungsbedarf tritt an vielen Stellen auf - nicht selten über Team- und Unternehmensgrenzen hinweg. Häufig sträuben sich Mitarbeitende und manchmal auch Führungskräfte, die anpassungsbedürftigen Themen anzuerkennen. Deren Lösungen erfordern nämlich, aus der Komfortzone herauszutreten, Experimente und neue Entdeckungen zuzulassen und aktiv zu werden. Die Umsetzung ist anders als gewohnt, oft verbunden mit erhöhtem Zeiteinsatz, und kann nicht auf Anweisung eingefordert werden.
Je schneller Führungskräfte also ihre Herausforderungen im Rahmen von Veränderung als adaptiv erkennen, desto klarer wird ihnen ersichtlich, dass es nicht sinnvoll ist, noch mehr Fachwissen zu lernen, sich Expertenwissen anzueignen und den Markt noch optimaler zu prognostizieren. Es ist Zeit für ein tiefenwirksames Führungs-Update unter loyalen Gesichtspunkten. Die Antwort für effektive Teamwork liegt darin, dass jeder die eigene Entwicklungsstufe erkennt - individuell und aus Team- bzw. Unternehmenssicht. Die Unterscheidung zwischen Sein, Tun und Haben ist grundlegend und hilfreich. Anstatt wie üblich mehr zu tun, um mehr zu haben, fokussieren sich Führungskräfte am besten bewusst darauf, wer sie wählen, zu sein (Führungs-Mindset). Sie praktizieren dann "Führung von Innen". Sie entwickeln eine bewusste, loyale Haltung, vertrauen auf ihre innere Resonanz und reifen als (Führungs-) Persönlichkeit. Dies ermöglicht Ihnen ein hohes Maß an Flexibilität und Weitblick im Umgang mit Veränderung, was ihnen in der virtuellen Zusammenarbeit mit ihrem Team direkt zugute kommt.
Fazit
Bewältigung und Umgang sind wertvolle Fähigkeiten. Doch sie reichen nicht aus, um die heutigen und zukünftigen Herausforderungen zu meistern. Denn die meisten Herausforderungen, denen wir heute begegnen, sind nicht durch Lernen zu bewältigen. Sie erfordern echte Entwicklung auf Persönlichkeits- und Haltungsebene. Wir alle haben in den vergangenen Jahren im Umgang mit Veränderung, Globalisierung, Digitalisierung dazu gelernt - aber nur wenige haben sich bisher wirklich entwickelt. Dies ist mein Appell an Sie! Führen Sie besser!
Autor
Miriam Engel
engel(at)loyalworks.de