Betriebliche Suchtprävention hat sich in den letzten 20 Jahren weiterentwickelt. Der Fokus hat sich von Sucht auf Risikokonsum verschoben. Dabei haben sich Standards für Betriebsprogramme, Intervention und Beratung entwickelt, die hier vorgestellt werden.
Der Begriff "Betriebliche Suchtprävention" ist historisch gewachsen: Er ist den Pionieren aus der Selbsthilfebewegung geschuldet, die vor mehr als 20 Jahren thematisiert haben, dass das Thema Alkoholmissbrauch in Betrieben keine Aufmerksamkeit hat. In vielen Unternehmen und Verwaltungen herrschte zu dieser Zeit exzessiver Alkoholkonsum, Alkoholausschank in Kantinen und über Bierautomaten war eher die Regel als die Ausnahme, und schwer chronifizierte Alkoholkranke wurden geduldet und mitgeschleppt, ohne betriebliche Ansprache und Aufmerksamkeit zu erfahren.
Trotz der unbestreitbaren Erfolge der Hilfsprogramme für Alkoholkranke ist heute die Fixierung auf Sucht in vielen Programmen fast zum Hindernis geworden. Alkohol- oder Drogenkonsum am falschen Ort und zum falschen Zeitpunkt erzeugt Probleme - ganz unabhängig von der Frage, ob der Konsument suchtkrank ist oder nicht. Möglicherweise werden sogar die meisten betrieblichen Alkoholprobleme gar nicht von Suchtkranken erzeugt, sondern von der viel größeren Gruppe der Risikokonsumenten. (Ralf Hüllinghorst, Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren).
Handlungsbedarf ist gegeben
Fünf Prozent der Beschäftigten gelten als behandlungsbedürftig alkoholabhängig, 10-20 Prozent als Risikokonsumenten. 1-2 Prozent werden als medikamentenabhängig betrachtet. Von den Konsumenten illegaler Drogen gelten mehrere Hunderttausend als abhängig. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl von Spielsüchtigen - über eine Million Menschen spielen interaktiv im Netz Counterstrike oder ähnliche Spiele. Wie viele Mitarbeiter durch exzessives Spielen und Surfen im Internet morgens müde zur Arbeit erscheinen und Konzentrationsprobleme haben, ist unbekannt. Hinzu kommen Folgeprobleme auf anderen Ebenen wie etwa Essstörungen und andere.
Aus betrieblicher Sicht ist es wichtig, die Risiken von Alkohol-, Drogenkonsum und Suchtkrankheiten im Leistungs-, Unfall- und Gesundheitsbereich einzudämmen und die damit verbundenen Kosten zu senken. Und es geht um wirksame Hilfe für Menschen, die Probleme haben - ob diese nun suchtmittelbedingt sind oder nicht.
Betriebliche Interventionen
Die Legitimation für betriebliche Interventionen bei Problemen im Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenmissbrauch ist nicht auf Suchtprävention oder Gesundheitsförderung beschränkt, sondern erstreckt sich von Leistung und Qualität über Arbeitssicherheit bis hin zum Thema Gesundheit.
Prävention entsteht dabei oft als Nebeneffekt von Interventionen. Wird beispielsweise nüchternes Arbeiten durchgesetzt, beeinflusst dies indirekt den Feierabendkonsum - man kann abends dann meist nicht so viel trinken, dass man morgens noch alkoholisiert ist.
Bezogen auf Alkohol- und Drogenprobleme bei Mitarbeitern stehen Führungskräfte im Grundsatz vor zwei verschiedenen Situationen, die eine Intervention erfordern:
Umgang mit akuter Beeinflussung durch Alkohol/Drogen
Bezogen auf Alkohol und Drogen hat es sich bewährt, klare Regeln zu schaffen, die ihre Legitimation aus dem Sicherheits- und Qualitätsgedanken beziehen. Weniger gängelnd als ein Alkoholverbot und klarer legitimiert wirkt die Durchsetzung des Positivstandards "nüchtern arbeiten", d.h. unbeeinflusst von Alkohol und anderen Drogen. Dieser Standard sollte explizit kommuniziert werden.
Wird er eingehalten, verbietet sich der Alkoholausschank während des Tages ebenso wie eine ausgedehnte "Feierkultur" von allein. Allerdings wird der Blick weniger auf Kontrolle des Konsums gelenkt, als vielmehr auf den Zustand des Mitarbeiters beim Arbeiten. Der Standard "nüchtern arbeiten" schließt Themen wie Restalkohol und illegale Drogen ein und ermöglicht eine angemessene Reaktion auf akute Beeinflussungen durch Alkohol und Drogen.
Keine Doppelbotschaften
Nüchternheit beim Arbeiten ist vor dem Hintergrund von Arbeitssicherheit und Arbeitsqualität eine völlig legitime betriebliche Forderung unabhängig vom Anliegen der Suchtprävention. Diese sinnvolle Erwartung ist durch klare Spielregeln weitgehend durchsetzbar, wenn auf akute Alkoholisierung oder Beeinflussung durch Drogen klar reagiert wird - wiederum vollkommen unabhängig von Sucht -, und vor allem ohne Doppelbotschaften!
Alkoholausschank im Betrieb ist eine solche Doppelbotschaft. Der Verzicht darauf ist Voraussetzung für Klarheit: Wer will, dass nüchtern gearbeitet wird, sollte auch in der Pause keinen Alkohol anbieten. Denn dies drückt indirekt aus, dass Alkoholkonsum in den Pausen in Ordnung ist. Diese Doppelbotschaft behindert Vorgesetzte, die aktiv gegen Alkoholisierung von Mitarbeitern vorgehen, denn sie müssen sich permanent mit dem Vorwurf persönlicher Kleinkariertheit aussetzen.
Vorgesetzte tragen die Verantwortung für den Arbeitsablauf und sind auf der Basis klarer Regeln nicht nur berechtigt, sonder verpflichtet, akut unter Alkohol- oder Drogeneinfluss stehende Mitarbeiter nicht einzusetzen und sicher nach Hause bzw. je nach Zustand in ärztliche Obhut zu bringen. Sie sind nicht in der Situation, die Alkoholisierung beweisen zu müssen, vielmehr muss der Mitarbeiter seine Nüchternheit nachweisen, wenn er eine nachfolgende Auseinandersetzung um das Thema Alkohol vermeiden möchte.
Alkoholtests sind daher ein Service-Angebot für den Mitarbeiter, sich schnell und unaufwändig von einem falschen Verdacht befreien zu können. Entscheidend für eine Kulturveränderung in dieser Frage ist die Durchsetzung von Nüchternheit. Nicht erforderlich ist es dagegen, auf einen Regelverstoß sofort mit einer dramatischen Konsequenz (z.B. Abmahnung) zu reagieren. Allzu dramatische Konsequenzen bei ersten Auffälligkeiten halten Vorgesetzte sogar eher von notwendigen Interventionen ab.
Etablierung einer Nüchternheitskultur
Die Etablierung einer Nüchternheitskultur beim Arbeiten ist "in sich" primärpräventiv bezogen auf Sucht, denn sie senkt den Konsum. Der Vorteil des Arbeitsansatzes: Er erspart einem die leidige und moralisierende Diskussion über die Frage, ob ein 25jähriges Dienstjubiläum mit Sekt gefeiert werden darf oder nicht.
Es darf mit Alkohol gefeiert werden - aber nicht zu jedem x - beliebigen Anlass und nicht tagsüber, unter Alkoholeinfluss wird nach diesem Standard nicht gearbeitet. Weitere Präventionsmaßnahmen sind Aufklärung, Belastungsreduktion und Angebote im Rahmen allgemeiner Maßnahmen der betrieblichen Gesundheitsförderung.
Mitarbeitergespräche und Intervention bei Auffälligkeiten
Die Schlüsselrolle der Vorgesetzten, die bei Mitarbeiterproblemen intervenieren müssen und auch maßgeblich die Konsumkultur mitprägen, ist Konsens - und in der Regel wird auch nicht bezweifelt, dass es sinnvoll ist, diese Gruppe mit Training, Beratung und Coaching zu unterstützen.
Die direkte Ansprache und Intervention im Einzelfall ist Aufgabe der Vorgesetzten. Gespräche bei Suchtmittelmissbrauch sind nicht ganz einfach, oft verlaufen sie konflikthaft oder emotional schwierig, deshalb bedürfen Führungskräfte hier der Unterstützung durch Seminare, Training und Coaching auf dem Hintergrund einer klaren Unternehmenspolitik.
Unterstützung von Vorgesetzten
Leider hat sich bezogen auf das Thema Suchtmittelmissbrauch gegenüber Vorgesetzten - wiederum oft bedingt durch die Fixierung auf Sucht - eine pathologisierende und abwertende Sprache und ein wenig lösungsorientiertes Vorgehen breitgemacht.
Statt die Dilemmata und die Handlungssituation von Vorgesetzten ernst zu nehmen und ihnen Unterstützung anzubieten (dies schließt auch Spielregeln ein), werden sie bisweilen als "coabhängig" pathologisiert, als inkompetent für die schwierigen Gespräche oder gar als konfliktscheue Drückeberger hingestellt, die sich durch Schweigen mitschuldig am Schicksal Betroffener machen. Wer so mit Vorgesetzten umgeht, gewinnt sie nicht und hilft ihnen schon gar nicht.
Vorgesetzte sollte bei der Ansprache auffälliger Mitarbeiter unterstützt werden. Häufig können sie Auffälligkeiten nicht einordnen und sind sich ihrer Einschätzung des Problemhintergrunds nicht sicher. Sie sollten sich daher nicht mit der Frage befassen müssen, ob jemand abhängig ist, sondern wahrgenommene Probleme - akuten Alkohol- oder Drogenmissbrauch ebenso wie Folgeerscheinungen von außerbetrieblichem Konsum - möglichst unbefangen, schnell, klar, offen und lösungsbezogen ansprechen und für ihre Lösung sorgen.
Die notwendigen Gespräche umfassen die Probleme in der Arbeit, die arbeitsbezogenen Erwartungen, verfügbare Unterstützungsangebote, wenn der Mitarbeiter allein keine Veränderung einleiten kann und auch durchaus Sanktionen, wenn er gegen betriebliche Spielregeln und den Arbeitsvertrag verstößt - das ist das, was Vorgesetzte thematisieren müssen - und können!
Geeignete Unterstützungsprogramme für Vorgesetzte sind Seminare zum Thema Gesprächsführung mit Mitarbeitern in Krisensituationen und bei Suchtmittelmissbrauch, sowie direktes Coaching bei aktuellen Problemsituationen.
Grundaufbau von Interventionsgesprächen durch Vorgesetzte
Information steht im Vordergrund!
- Rahmen, Beziehung (Kontext)
- Anlass und Lösungsabsicht: Vorfälle, Sorge, Ärgernisse, Offen, ehrlich, zugewandt
- Fakten (Ist)
- Konkret, beschreibend, nachvollziehbar.
- Ich-Botschaften: "Ich habe bemerkt, dass... Dies hatte folgende Auswirkungen für mich, für andere...Für mich bedeutet das... Mein Eindruck ist, meine Sorge ist, ich wünsche mir..."
- Erwartungen, Grenzen (Soll)
- Realistisch, auf das Berufliche bezogen, legitime Standards
- Konsequenzen (Handlungsfolgen)
- Ich-Botschaften: In welche Situation komme ich, wenn sich nichts ändert? Was muss, werde ich deshalb tun? Abgestuft, angemessen, fair, angekündigt, aufzeigen, einhalten!
- Unterstützung (Ressourcen)
- Informativ, eindringlich. Was kann der Vorgesetzte tun/anbieten, was nicht? Information über Hilfeangebote, ggf. Vermittlung des Kontakts
Betriebliche Hilfesysteme
Für betriebliche Hilfesysteme geht man davon aus, dass auf 3000 Mitarbeiter eine volle Sozialarbeiterstelle sinnvoll ist - hier wird leider oft am falschen Punkt gespart. Man muss nicht immer eine Stelle schaffen. Kleinere Betriebe können sich professionelle sozialarbeiterische Leistungen stundenweise einkaufen.
Professionelle innerbetriebliche Beratungseinrichtungen sind Clearing-Stellen und "Beschleuniger" im Case Management: Ein guter Sozialberater kann einem Mitarbeiter in einer Krisensituation entweder direkt Unterstützung bieten oder ihm helfen, im Dschungel der externen Angebote das Richtige zu finden um Verzögerungen des Prozesses durch unnötige "Irrläufer" zu vermeiden.
Es ist deshalb nicht sinnvoll, betriebliche Hilfeangebote auf Sucht zu begrenzen. Die Fachkraft in der allgemeinen "individuellen Mitarbeiterberatung" sollte jedoch ausdrücklich in diesem Arbeitsfeld qualifiziert sein und diagnostische und beraterische Kompetenz besitzen. Entscheidend für den Erfolg ist die Qualifikation und Integrität der Person.
Die Direktbuchung eines qualifizierten Beraters ist in diesem Bereich eine bessere und kostengünstigere Lösung als EAP-Leistungen (Employee Assistance Programs) großer Anbieter nach dem Mitgliedschafts-Prinzip (Pro-Kopf-Beitrag). Derartige Lösungen haben zwar den Vorteil hoher Anonymität für den einzelnen Mitarbeiter. Sie sind jedoch auf Grund der "Provider-Logik" in der Organisation oft zu stark zentralisiert (vor allem bei internationalen Anbietern) und für die Betriebe vergleichsweise teuer, während die tatsächlichen Leistungserbringer deutlich unterbezahlt sind und sich in der Regel in ungeschützten Arbeitsverhältnissen befinden. Was die Leistungsseite angeht, fehlt für Betriebe manchmal zudem die Transparenz.
Die Mitarbeiterberatung ist schweigepflichtig und sollte unabhängig arbeiten können, erwägenswert ist eine Anbindung an den arbeitsmedizinischen Dienst.
Zusätzlich können kollegiale Ansprechpartner benannt werden, die persönliche Erfahrungen zum Thema weitergeben. Diese sollten von einem qualifizierten Anbieter auf ihre Arbeit vorbereitet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass kollegiale Ansprechpartner als Laien nicht in der Lage sind, eine professionelle betriebliche Arbeit zu ersetzen. In der Zusammenarbeit mit Professionellen sollte daher der Aspekt der Kollegialität - und die damit verbundenen Chancen für "unkonventionelles" Arbeiten - betont werden.
Betriebsvereinbarung ja oder nein?
Betriebsvereinbarungen sollten Gegenstände regeln, die verhandlungswürdig sind - wie z.B. die Philosophie eines Programms, sinnvolle und legitime Standards und die Ressourcen, die dafür bereitgestellt werden. In der Auseinandersetzung mit Mitarbeitern, die suchtmittelbedingte Probleme erzeugen, müssen bestimmte Qualitätsstandards eingehalten werden.
Es hat sich bewährt, diese in Form von Handlungsanleitungen niederzuschreiben. Bei der Erstellung von Betriebs- und Dienstvereinbarung empfiehlt sich Beratung, um nicht gängige "Fehler" (auch juristischer Art) in Regelwerken weiterzutragen.
Autorin
Dr. Martina Rummel
Ibs.berlin(at)t-online.de